Das Weinjahr 2022 im Rückblick

06. November 2022


2022 war ein Jahr der globalen Herausforderungen. Die Pandemie noch nicht vollständig überwunden, ab Februar der furchtbare Krieg mit gleichzeitig explodierenden Energiekosten, die ihrerseits wieder eine massive Inflation auslösten. Auch die Lieferkettenprobleme blieben bestehen, während in der zweiten Jahreshälfte die Nachfrage nach Wein einbrach. Einzig Schaumweine wurden aus das Regalen gerissen. Champagner also wieder einmal, um die Verwerfungen in der Welt zu vergessen.

  • Der weinrouten Wein des Jahres 2022

    Doch beginnen wir unseren Rückblick mit etwas Erfreulichem: unserem weinrouten Wein des Jahres, dem Sassicaia 2019. Die Wahl fiel uns schwer und leicht gleichermaßen. Schwer, weil in 2022 viele große 2019er Rotweine und große Champagner aus 2008, 2012 und 2013 releast wurden. Leicht, weil dieser Sassicaia 2019 etwas ganz Besonderes hat, das ihn aus anderen großen Jahrgängen hervorhebt. Er verbindet größte Delikatesse mit einer unglaublichen Leichtigkeit und mühelosen, inneren Frische. Ein Wein, der schlicht verzaubert und der zumindest in Bolgheri in einer eigenen Liga spielt, vielleicht in ganz Italien. Auch das übliche Sassicaia Bashing (völlig überbewertet, viel zu teuer,...) ist kaum mehr vernehmbar, alle relevanten Weinverkoster sind sich mit höchsten Bewertungen einig.

  • Die Weinbranche in der Zange

    Die ökonomische Situation der Weinbranche hat sich in 2022 merklich verschlechtert. Wieder einmal waren wichtige Betriebsmittel kaum zu bekommen, z.B. Glas, Etiketten, Holzkisten und Kartonagen, Logistikleistungen. Und wenn, dann zu massiv gestiegenen Kosten. Ein Weingut in Italien berichtet uns, dass die Glasflaschen mehr als doppelt so teuer wurden, die Energie für die Maschinen, Barrique- und Lagerhäuser sechs Mal so teuer. Holzkisten waren kaum zu bekommen. Aus normalerweise kleineren Kostenpositionen wurden unvermittelt große Kostenblöcke. Preiserhöhungen erlaubten kaum eine nennenswerte Erleichterung, denn die Budgets der Kunden ließen kaum noch Raum für Ausgaben für teure Genussmittel. Wichtige Exportmärkte waren auch plötzlich durch den Krieg und Exportverbote versperrt. Andere mussten wegen des starken US-Doller sowieso schon mehr bezahlen.

    Dazu kam ein super heißer und extrem trockener Jahrgang 2022 in Europa mit Ernteeinbußen und einer nicht durchgängig optimalen Qualität. Viel Arbeit und massive wirtschaftliche Risiken setzten der jahrelang boomenden Agrarbranche zu.

  • Weitgehende Öffnungen nach 2 Jahren Pandemie

    Zum späten Frühjahr hin entspannte sich (zumindest gefühlt) die pandemische Lage, Großveranstaltungen wurden wieder möglich, internationale Reisen einfacher. So fand, mit leichter Verschiebung im Kalender, die Bordeaux-Primeurwoche wieder statt. Auch andere Messen wie die VinItaly oder die ProWein fanden nach 2 Jahren wieder als breite Präsenzveranstaltung statt. Ganz auf dem Niveau der Vor-Coronazeit ist man aber noch nicht.

    Besonders positiv für die Weinbranche war die volle Wiedereröffnung der Gaststätten und Restaurants mit einem großen Anstieg der Weinnachfrage dieses Sektors. Dazu gehören auch die Kreuzfahrtschiffe, traditionell ein bedeutender Absatzmarkt. Der Weinhandel, während der Corona-Krise die große Stütze der Weinbranche, bekam die Verschiebung zurück zum HoReCa Segment (Hotel, Restaurants, Catering) durch Lieferbeschränkungen kräftig zu spüren.

  • Hitze- und historische Trockenheit

    Eigentlich sind warme und trockene Jahrgänge gut für den Wein. Wenn es aber so extrem heiß und trocken ist wie 2022, dann ist das schon ein Problem. Bereits im Frühjahr fiel so gut wie kein Regen, die Wasserreservoirs waren angespannt. Über den ganzen Sommer verschärfte sich die Situation nur immer weiter. Extreme Dürre breitete sich über Europa aus, in vielen Regionen wurde Wasser streng rationiert. Gleichzeitig pendelten die Temperaturen wochenlang zwischen 35°C und 40°C.

    Ab Mitte August dann der lange erwartete Wetterwechsel. Anfangs waren die Niederschläge willkommen und gut dosiert, um die Ausreifung der Trauben wieder anzuschieben. Dann aber zeigte sich der Regen bis über die sehr frühe Ernte als hartnäckiger als gedacht. Man wird sehen, wie die einzelnen Regionen mit ihren spezifischen Bedingungen zurecht kamen. Aus Bordeaux kommt allerdings schon kurz nach der Ernte überschwängliche Begeisterung. Ein neuer 82er, 61er, 47er?

  • Boomende Herbst-Releases am Place Bordeaux

    Unaufhaltsam steigt die Anzahl der internationalen Top-Weine, die im Herbst über den Wein-Handelsplatz Bordeaux vermarktet werden. Der Boom dieses eigentlich für Bordeaux-Weine im Frühjahr etablierten Handelswegs über die Negoçiants genannten Händler ist nicht zu stoppen. Masseto war 2009 der erste italienische Wein, der über Bordeaux vertrieben wurde - mit großem Erfolg. Mittlerweile gibt es Weine aus den USA, Australien, Italien und sogar erste Champagner, die im Herbst über Bordeaux den Weg in den Markt finden. Führend aber sind klar italienische Weine: neben Masseto finden sich vor allem weitere Toskaner wie Luce, Solaia, Siepi, Galatrona, Colore und andere Weine. Bemerkenswert ist, dass diese Weine bislang nur sehr limitiert ihren Weg nach Deutschland gefunden haben und nun über Bordeaux der Zugriff für viele Händler deutlich einfacher geworden ist. Ziel der Aktion sind aber natürlich nicht die europäischen, sondern die Überseemärkte und hier hat der Bordeaux-Handel traditionell seine großen Stärken mit einem großen Netz an Importeuren. Am Ende dient dieser Vertriebsweg aber vor allem der Preispflege - nach oben.

  • Die Finanzbranche treibt den Umbau der Weinindustrie

    Die Weinwelt ist von den Produzenten / Weingütern über die gesamten Handelsstrukturen bis auf wenige Ausnahmen historisch ein extrem fragmentierter Markt. Seit einigen Jahren haben sich allerdings große Unternehmen durch bemerkenswerte Übernahmen bedeutende Marktanteile gesichert, z.B. LVMH in der Champagne mit den Marken Moët, Krug, Veuve Clicquot, Ruinart. Auch Versicherungsunternehmen haben in den vergangenen Jahren wegen der hohen und relativ konstanten Gewinne erheblich in den Weinsektor investiert, z.B. AXA in Bordeaux.
    Neu ist jetzt, dass sich die Finanzindustrie an der Konsolidierung der Branche beteiligt, z.B. der "Made in Italy Fund" aus Mailand. Dabei sind Skaleneffekte bei Weingütern und auch im Handel interessant und versprechen hohe Margen. Hier konkurriert das Risikokapital mit dem großen Übernahmehunger etablierter und diversifizierter Weinbaubetriebe. Das Haus Antinori vereint mittlerweile schon über 40 Weingüter auf mehreren Kontinenten und investiert regelmäßig in weitere Übernahmen. Das Champagnerhaus Roederer ist längst auch im Rotwein ein wichtiger Player geworden. Die Nähe von Mode- und Weinbranche ist zumindest in Italien und Frankreich mehr als augenfällig, beides klassische Luxusbereiche. Und die Integration schreitet auch vertikal voran. Erst jüngst wurde einer der größten Online-Weinhändler Italiens, Tannico, von LVMH und der Campari Gruppe übernommen. Man muss keine große Fantasie entwickeln um vorherzusagen, dass auch in 2023 spektakuläre Übernahmen anstehen.

  • Der Wein ist im Metaverse angekommen

    Während große Weinproduzenten sich durch Übernahmen weit über die 100 Mio. Euro Umsatzgrenze schieben, beginnen sie auch den Handel umzustrukturieren. Die Trennung zwischen Produzent / Weingut und Vertrieb verschwimmt. Dabei ist ein enormer künftiger Hebel die technische Entwicklung vom Web 2.0 (Social Media) hin zum Web 3.0 (Metaverse). Mit dem Web 3.0 verschmelzen reale und virtuelle Welten hin zu völlig neuen Geschäftsmodellen und Vertriebswegen. Noch sucht auch die Weinbranche nach dem goldenen Schlüssel zu dieser neuen Welt, aber die Aktivitäten nehmen rasant zu. Erste Spitzenweine werden über Metaverse-Plattformen angeboten und in Kryptowährungen bezahlt, meist kombiniert mit digitalen und auch realen Erlebnissen. Wie aber nur digitalisiert man ein herausragendes Geschmackserlebnis?