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Wenn Sie wissen möchten warum, müssen Sie ihn halt lesen - bis zum Ende



Der Streit um Wein-Ratings ist Legende, ist er in Zukunft noch notwendig?


Die Idee, Weine nach einer in den USA verbreiteten Skala bis zu 100 Punkten zu bewerten, wird Robert Parker zugeschrieben. Dieses an die Prozentrechnung angelehnte System unterstellt bei einer Bewertung von 100 ein faktisch perfektes Produkt. Dieses System ist genial, da intuitiv einfach. Zudem fasst es alle relevanten (und auch nicht relevanten) Faktoren in einer einzigen Zahl zusammen. Die Punktezahl wirkt wie ein Stempel auf dem Produkt, der alles sagt, den man sich leicht merken kann und der Vergleiche auf eine simple mathematische Rechnung reduziert. 96 ist eben mehr als 95, also besser.

Die Anwendung dieser Messlatte auf Weine hat die Weinwelt in wenigen Jahrzehnten revolutioniert. Sie hat eine bis heute endlose Qualitätsoffensive ausgelöst und sich in ihrer ökonomischen Bedeutung verselbständigt. Die Bewertung von Weinen nach der 100 Punkte Skala ist heute faktisch der Standard und regelt in weitem Umfang Nachfrage und Preisstellung der Weine. Es gibt Online-Shops, die zuerst die Punktezahl und dann den Weinnamen des Angebots nennen. Die Logik: der Konsument kauft Punkte, nicht einen speziellen Wein. Besonders kritisch: liegt die Bewertung unter 85 Punkten, dann ist eine Nennung kontraproduktiv - es wäre ein Negativmerkmal.


Die Jagd nach Punkten hat die Weinqualität auch in der Breite erst ermöglicht


In der "Vor-Rating" Zeit hing der ökonomische Erfolg eines Produzenten an der Menge des produzierten Weins. Da die Weinmenge und Qualität negativ gekoppelt sind, war die Qualität eben entsprechend gering. Wenn man mit höherer Qualität aber einen überproportional höheren Preis erzielen kann, dann lohnt sich die Ertragsreduzierung. Dieser Logikwechsel im Geschäftsmodell der Winzer hat eine ganze Generation lang zu teilweise erbitterten Kämpfen zwischen vornehmlich Vätern und Söhnen geführt. Die Ertragsreduzierungen im Weinberg sind heute so drastisch wie nie, eine strikte "grüne Lese" ist Standard bei den besten Betrieben. Nach der Ernte landet das Traubenmaterial auf dem Sortiertisch und es werden nicht nur Käfer und Blätter entfernt. Vorläufiger Höhepunkt: die Einführung vollautomatischer Sortiermaschinen. Sie sind gnadenlos, erkennen kleinste Abweichungen von der perfekten Traube, arbeiten rasend schnell und werden nicht müde. All diese Maßnahmen kosten enorm viel Geld - das kommt aber über einen immer höheren Preis pro Flasche mit hohen Zinsen wieder herein. Denn 1. gibt es vermutlich / hoffentlich ein hohes Rating für die Qualität und 2. reduziert sich die Zahl der Flaschen. Was gut und rar ist muss teurer werden - und wird es auch.

Gleichzeitig erhöht sich der Konkurrenzdruck, denn der Konsument merkt schon, dass bestimmte Weine einfach besser werden. Also müssen alle nachziehen, die Qualität steigt insgesamt an. Ohne Zweifel gab es wohl noch nie so viele gute, sehr gute und auch herausragende Weine wie heute. In der Folge steigen auch die absoluten Bewertungen der Weine nach oben. Schade, dass die Skala bei 100 begrenzt ist.

Die Jagd nach Punkten hat auch ganz neue Berufsfelder entstehen lassen: z.B. die der Berater-Önologen. Manche sind zu regelrechten Stars aufgestiegen, beraten quer über die Erde zig Weingüter und garantieren schon mit ihrem berühmten Namen hohe Ratings.


In der Jagd nach Punkten verstärkt sich die Abhängigkeit von selbst


Unmerklich verstärkt sich in diesem System aber auch die Abhängigkeit von den Bewertungen. Das klassische Beispiel sind die Châteaus in Bordeaux, die nach der Primeurverkostung auf die Bewertungen der relevanten Weinkritiker warten und dann die Preise für Ihre Weine festsetzen. In Italien und anderen Weinregionen ist diese Abhängigkeit noch nicht so stark ausgeprägt - auf der Produzentenseite. Für den Konsumenten sieht das anders aus. Bekommt ein Wein ein hohes Rating, wird er sofort teurer und ist zudem in der Regel schnell ausverkauft, das Problem verlagert sich auf den Sekundärmarkt. Ein Indiz hierfür ist der boomende Auktionsmarkt.

Eine Schlüsselrolle kommt den relevanten Weinkritikern zu. Man findet sie bei den großen Weinpublikationen. Bis heute setzt hier der "The Wine Advocate" von Robert Parker den Maßstab. Nicht viel geringer ist der Einfluss der Ratings des "Wine Spectators" und des britischen "Decanter". Großen Einfluss haben auch Antonio Galloni, früher Mitarbeiter von Robert Parker und James Suckling, früher in der Redaktion des Wine Spectator. Die Weinbörse "LIV-EX" berechnet den Einfluss der verschiedenen Kritiker sogar über mathematische Analysen. Wurden die Bewertungen früher in Büchern und gedruckten Zeitschriften verbreitet, haben heute Websites diese Rolle übernommen. Parker hat mittlerweile seine Print-Ausgabe eingestellt und setzt nur noch auf die Online-Aufbereitung.

Alle diese wichtigen Weinkritiker haben ihre Online-Portale mit einem Bezahlsystem geschützt, d.h. ohne eine kostenpflichtige Subskription können die Verbraucher die Ratings und Texte nicht lesen. Die Bewertungen sind ihr Geschäftsmodell. Da sich die Ratings über die zahlreichen Shops und deren Werbung von alleine verbreiten (sie können die Subskription leicht bezahlen), gilt dies für die mit großem Aufwand erstellten Textbewertungen leider nicht. Bestenfalls einzelne Satzfetzen werden zitiert. Damit werden Konsument und Kritiker auf die Punktezahl reduziert. Dabei wären doch die Texte viel wichtiger als die Punktezahlen.


Gut, besser, am besten funktioniert beim Wein nicht


Weine zu verkosten und zu bewerten kann man lernen. Es gibt hierzu die verschiedensten Ausbildungssysteme. Hoch anerkannt sind die Master-of-Wine, die wohl schwerste und aufwändigste Ausbildung, die nur wenige Menschen schaffen. Alleine die sensorischen Fähigkeiten dieser Personen müssen herausragend sein. Die Achtung vor diesen Meistern ihres Fachs ist zurecht groß. Auch gibt es für die Qualität von Weinen sicherlich objektive Kriterien, die völlig unstrittig sind. Spitzenweine werden heute fast ausschließlich sehr naturnah hergestellt, Chemieeinsatz im Weinberg und Keller sind so gut wie ausgeschlossen, perfekte Hygiene ist eine Grundvoraussetzung. Der Aufwand für eine schonende Vinifikation kennt kaum noch Grenzen, ein konstanter Strom von Innovationen im Weinberg und im Keller hat rasante Fortschritte ermöglicht.

Das Problem ist nur, dass trotz dieser Kriterien ein Punktevergleich von Weinen unmöglich ist, wenn er sich auf die Kriterien "gut", "besser", "am besten" bezieht. Aber nur diesen Schluss lässt ein Punktesystem zu und genau so wird das System auch interpretiert. Zudem fügt der Leser / Konsument noch das Wörtchen "schmeckt" davor. Ein 96 Punkte-Wein schmeckt also besser als ein 95 Punkte-Wein! Was, wenn er beide Weine kauft, öffnet und vergleicht. Und wenn er feststellt, dass ihm der 96 Punkte Wein gar nicht schmeckt, der 95 Punkte-Wein aber viel besser? Er wird sich über den Weinkritiker ärgern, seine Kompetenz bezweifeln und sich im besten Fall freuen, den "billigeren" aber "viel besseren" Wein zu kaufen.


Online verändert alles, auch beim Wein


Das Internet hat alle Bereiche des Lebens verändert, insbesondere das Kommunikations- und Konsumverhalten. Heute bewertet jeder alles und jeden Tag. Der Konsument kauft, bucht, übernimmt nichts mehr, ohne sich vorher durch eine Vielzahl von Bewertungen zu informieren. Bewerten und "kritisieren" ist ein Massenphänomen geworden. Früher gab es eine kleine Zahl von Hotel- und Gastroführern mit Profibewertern. Heute gibt es eine kleine Zahl relevanter Plattformen mit Millionen von Bewertern. Die Küche ist noch nicht aufgeräumt, das Zimmer noch nicht frisch bezogen, da steht die Bewertung schon online. Ein renommiertes Weingut aus Italien berichtet, man würde jeden Morgen zuerst auf einem großen Reiseportal die Bewertungen der Besucher des Vortages lesen.

Dieses Phänomen gibt es auch beim Wein. User geben auf cellartracker und vielen anderen Portalen sowie sozialen Medien ständig ihre Bewertungen zu fast jedem kommerziell erhältlichen Wein ab. Viele Blogger erreichen in real time ein Massenpublikum mit zig-tausend Followern. Auf diesen Plattformen verbinden sich die Weingüter auch direkt mit dem Konsumenten. Die Referenzkritiker von gestern verlieren ihre Bedeutung, obwohl sie auch versuchen, in den sozialen Medien Fuß zu fassen. Im Vergleich zu zahlreichen "Bloggern" bleiben diese Versuche aber bislang nicht sonderlich erfolgreich. Neue Referenzpunkte sind etwa junge Sommeliers aus der New Yorker Szene, mit unglaublichen Followerzahlen. Die von ihnen gehypten Weine passen wenig in die Mainstream-Kritik.

Die Kritiker haben ihr Meinungsmonopol verloren, die Bewertung von Geschmack nach Punkten ist in hohem Maße angreifbar und wird auch ständig angegriffen. Es scheint, als ob sich manche Kritiker in eine Flut sehr hoher Bewertungen absetzen, andere sehr hohe Bewertungen fast gänzlich vermeiden, um die Messlatte neu zu justieren. Beides untergräbt die Glaubwürdigkeit weiter. Ein anderes, gerne genutztes Geschäftsmodell sind Weinverkostungen in Form von Großveranstaltungen für Weinfreunde, die die bekannten Weinkritiker auch einmal persönlich erleben möchten. Doch auch hier organisieren sich die Weingüter zunehmend selbst - zu ihren eigenen Bedingungen.


Das Empfinden, was gut ist, bleibt immer individuell





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